Die Notwendigkeit der Philosophie Sri Aurobindos
von Matthias Kimmerle
Die Philosophie des menschlichen Geistes steht wie immer in der Not die Fesseln eines gefangenen Bewußtseins zu lösen. In der sich generierenden Technokratie bedarf es eines dritten Geschlechts, das den eigensten Möglichkeitshorizont des Menschen zu öffnen vermag. Die reine Schau der bewußten Kraft des menschlichen Individuums kann nur im Kontext der göttlichen Kraft, der reinen Naturkraft, in ihr Recht kommen und mit der vollendeten Natur in Teilhabe treten. Dieses dritte Geschlecht formuliert Sri Aurobindo mit dem Begriff Supramental. Das Supramental setzt das menschliche Mental In Kraft. Die traditionelle indische Yoga-Philosophie inveniert diese reine Naturkraft mit der Begrifflichkeit des Brahman. Hier ist Aurobindos geistiges Bewußtsein gegründet. Er reformuliert Brahman als "saccidanada", d. i. Sein-Bewußtsein-Seligkeit. Hier sind Kraft und Sein in Seligkeit eins geworden. Es ist die höchste Wirklichkeit als das im Selbst existierende Sein. Es ist das Bewußtsein schöpferischer Freude. Reine Naturkraft. Die Not des Menschen in seinem naturwissenschaftlichen Verständnis als homo sapiens sapiens ist seit jeher die Entfremdung von seiner Geistnatur, soll heißen das Vergessen seines kosmischen Ursprungs aus der reinen Naturkraft. Die Yoga-Philosophie verwendet für diese Begebenheit den Begriff avidya, d. i. das kosmische Prinzip der Unwissenheit. Das szientistische Wissen entspringt dieser Unwissenheit, es hat seinen Ort im relativen und vielfältigen Bewußtsein. Somit ist es geschieden von dem einenden Bewußtsein. An dieser Stelle ist zu betonen, daß diese Trennung nicht absoluter, sondern qualitativer Art ist. Also ist die Erkenntnis der reinen Naturkraft und das Durchstoßen des Individuums in den äquivalenten Bewußtseinszustand potentiell gegeben. Sri Aurobindos philosophisches Werk ergründet das menschliche Bewußtsein hinsichtlich des kosmischen Bewußtseins, in dessen Strukturen der menschliche Geist sich entwickelt. Dies vollzieht sich immer im Gespräch mit der indischen und europäischen Tradition, aus der er die Inspiration seiner Begriffe schöpft. Da der "homo faber" zu Einseitigkeiten neigt und qua seiner durchaus positiven technischen Errungenschaften, seine eigensten Möglichkeiten, die oben in den Blick genommen wurden, vergessen läßt, ist eine Philosophie vonnöten, die die bewußte Kraft seiner Natur in schärfster Kontur für das geistige Auge sichtbar werden läßt. Dies leistet das traditionelle Denken Sri Aurobindos, zumal es qua seiner integralen Methode Einseitigkeiten vermeidet. Jedes ontologische Teilgebiet kommt in sein Recht. Sophisten werden sagen: Nun aber ist doch die reine Naturkraft eine solche Einseitigkeit. Ihnen ist zu erwidern: Die unbedingte Wahrheit ist überall!